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OLG Naumburg urteilt zu Überholunfall im Gegenverkehr
OLG Naumburg Urteil vom 30.9.2015 – 12 U 58/15 –

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Der spätere Kläger fuhr mit seinem Motorrad hinter einem Lkw auf einer zweispurigen Bundesstraße in Sachsen-Anhalt und unterschritt dabei den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand. Den Fahrzeugen kam ein Silofahrzeug entgegen, gefolgt vom Fahrzeug der später beklagten Fahrerin. Dieses scherte zum Überholen des Silofahrzeugs aus, brach den Überholvorgang aber nach ungefähr vier Sekunden wegen des entgegenkommenden Lkws ab und wechselte auf den rechten Fahrstreifen zurück. In diesem Moment betrug der Abstand zwischen Überholer und entgegenkommendem Lkw weniger als 16 Meter. Der Lkw konnte jedoch bis zum Stillstand abbremsen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Dabei fuhr der Kläger mit seinem Motorrad auf den Lkw auf.
Der Kläger beansprucht von der Fahrerin und deren Kfz-Haftpflichtversicherung Schmerzensgeld und Schadensersatz. Das erstinstanzlich zuständige Landgericht Dessau-Roßlau hat mit Urteil vom 2.4.2015- 4 O 880/12 – dem Kläger nur einen Teil der von ihm beanspruchten Schadenssummen zugesprochen, nachdem das Gericht Beweis erhoben hat. Die dagegen eingelegte Berufung hat zum Teil Erfolg.

Der Kläger kann von den Beklagten die Zahlung von 26.137,39 € verlangen. Er hat gegen die beiden Beklagten, nämlich die Fahrerin und deren Kfz-Haftpflichtversicherung,als Gesamtschuldner einen Anspruch auf Ersatz seiner materiellen und immateriellen Schäden zu einer Haftungsquote von 6 Prozent. Die beklagte Fahrerin und Halterin haftet aus § 7 I StVG. Auf die insoweit dem Grunde nach gegebene straßenverkehrsrechtliche Gefährdungshaftung muss sich der Kläger im Ergebnis der nach § 17 I, II StVGgebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und Verschuldensanteile sowie der Betriebsgefahren der am Unfall beteiligten Fahrzeuge allerdings einen Eigenhaftungsanteil in Höhe von 40 Prozent anrechnen lassen. Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf einen Ausschluss seiner Halterhaftung berufen. Dem steht schon entgegen, dass der Kläger selbst einen erheblichen Verkehrsverstoß begangen hat.

Das Landgericht hat nach erschöpfender Beweiserhebung durch Vernehmung des Zeugen G., durch Anhörung des Klägers und der Beklagten zu 1) und durch das Gutachten des Sachverständigen W. mit überzeugender Begründung festgestellt, dass der Kläger gegen das Gebot des ausreichenden Sicherheitsabstandes verstoßen hat. Der Abstand zwischen Motorrad des Klägers und dem LKW mit Anhänger des Zeugen G. betrug im Zeitpunkt der ersten Reaktionsmöglichkeit des Klägers durch Aufleuchten der Bremsleuchten des vor ihm fahrenden LKW gerade einmal 6,6 Meter. Der in der seinerzeitigen Verkehrssituation gebotene Sicherheitsabstand hätte demgegenüber ca. 13,4 Meter betragen. Ebenso wenig war der Unfall für die Beklagte ein unabwendbares Ereignis. Dem steht nämlich entgegen, dass sie einen Verstoß gegen § 5 II StVO begangen hat.

Wer zum Überholen ausscheren will, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist Soweit beim Überholen ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern eingehalten werden muss, kann diese Vorschrift sowohl gegenüber dem überholten Verkehrsteilnehmer verletzt werden als auch gegenüber Fahrzeugen im Gegenverkehr. Einschlägig ist § 5 II 1 StVO, wonach über-holen nur derjenige darf, wer übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Diesen Anforderungen hat die beklagte Fahrerin nicht entsprochen. Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht nämlich fest, dass die Beklagtemit ihrem Fahrzeug in einer Entfernung von gerade einmal 141 Metern zu dem ihr entgegen kommenden LKW des Zeugen G. den Überholvorgang durch Ausscheren nach links hinter dem vor ihr fahrenden LKW eingeleitet hat, ihr Fahrzeug zu einem gewichtigen Teil auf die Fahrspur des Gegenverkehrs gesteuert hat und dadurch den Zeugen G. als Fahrer des Lkwszum Abbremsen seines Fahrzeuges veranlasst hat, wobei es ohne dieses Abbremsen zu einer Kollision des Lkws mit dem PKW der Beklagten gekommen wäre. Dies folgt aus den erstinstanzlich erhobenen und im Berufungsverfahren auch nicht angegriffenen überzeugenden Beweisen, der Aussage des Zeugen G. und dem Gutachten des Sachverständigen W.

Liegen die Voraussetzungen eines Haftungsausschlusses nach § 17 III StVG für beide Seiten somit nicht vor, isteine Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und Verschuldensbeiträge vorzunehmen. Die Abwägung ist dabei aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen, wobei in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung bei-getragen haben; das beiderseitige Verschulden stellt einen weiteren, in die Abwägung einzustellender Faktor dar, wobei nach ständiger Rechtsprechung allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen sind, die zugestanden, unstreitig oder nach § 286 ZPO bewiesen und darüber hinaus nachweislich schadensur-sächlich geworden sind (vgl. BGH NJW 2000, 3069; OLG Saarbrücken NZV 2009, 556; OLG Zweibrücken SP 2009, 175; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42.Aufl., § 17 StVG Rdn.4, 5 m.w.N.).

Entgegen der Bewertung des Landgerichts rechtfertigen die beiderseitigen Verkehrsverstöße keine Haftungsquote von 2/3 zu Lasten des Klägers, sondern vielmehr eine Haftung der Beklagten zu 6/10. Insoweit war das landgerichtliche Urteil abzuändern.

Fazit und Praxishinweis:
Befindet sich ein PKW-Fahrer auf einer zweispurigen Bundesstraße mit dem Großteil seines Fahrzeuges über den langen Zeitraum von fast vier Sekunden auf der Gegenfahrbahn, um einen vor ihm fahrenden LKW zu überholen, so dass ein entgegenkommender LKW stark bis zum Stillstand bremsen muss, wobei aus diesem Grund ein hinter diesem LKW fahrender Motorradfahrer, dem die Sicht auf das Verkehrsgeschehen versperrt ist und der einen deutlich zu geringen Sicherheitsanstand einhält, auffährt, dann kommt eine Haftung des PKW-Fahrers gegenüber dem Motorradfahrer im Umfang von 60 % in Betracht.
Quellen
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