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Reifen: Bietet auch die Mindestprofiltiefe ausreichend Sicherheit?
Gegen Aquaplaning kommt es nicht nur auf die Profiltiefe an | Michelin startet Initiative zur längeren Nutzung von Autoreifen

RobGal

Müssen Autofahrer in punkto Reifen umdenken? Sind jahrelange Empfehlungen von Sicherheitsexperten plötzlich Makulatur? Oder steht in der Reifenbranche so etwas wie eine technische Revolution bevor? Auf den ersten Blick scheinen die Überlegungen von Reifenhersteller Michelin ungewöhnlich zu sein, die Funktion und Sicherheit von Autoreifen nicht nur in fabrikneuem Zustand zu überprüfen, sondern auch wenn die Pneus ihre gesetzlich vorgeschriebene Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern bereits erreicht haben.
Was vermutlich die meisten Autofahrer gar nicht wissen: Die Leistung und Tauglichkeit eines Reifens und damit dessen Sicherheit ändern sich zwar mit abnehmender Profiltiefe, überraschenderweise werden aber nicht alle Eigenschaften schlechter, im Gegenteil: Teilweise verbessern sie sich sogar: Das gilt besonders für den Bremsweg, der zumindest auf trockener Straße um bis zu zehn Prozent kürzer wird. Auch der Rollwiderstand wird geringer und damit der Kraftstoffverbrauch, und zwar um bis zu 20 Prozent. Ebenso nimmt die Geräuschentwicklung ab, wie Michelin hervorhebt.

Bekanntermaßen hat aber jede Medaille (und sei sie aus purem Gold) auch eine zweite Seite. Beim Pneu ist das sein Verhalten bei Nässe, das wird mit der Zeit tatsächlich immer schlechter. Entscheidend ist dabei aber nicht nur die Profiltiefe, wie Michelin-Fachmann Pierre Robert vor Journalisten meinte, sondern auch der Aufbau des Reifens mit der Form der Aufstandsfläche, dem Profildesign und der Gummimischung. Und da, ist sich der Experte sicher, müsse man „keinen Kompromiss machen bis zum Ende des Reifenlebens“.

Wird die Gefahr von Aquaplaning überbewertet?

Dazu führte Micheln Nässetests mit bis zur Mindestprofiltiefe abgefahren Reifen durch. Bei den Produkten unterschiedlicher Marken ergaben sich gravierende Unterschiede beim Bremsweg aus Tempo 80 bis zum Stillstand, die immerhin bis zu zwanzig Meter ausmachten. Dabei sollte man auch wissen: Mit neuen Reifen halbiert sich der Bremsweg um mehr als die Hälfte.

Allerdings wird das Thema Aquaplaning offenbar stark überbewertet, das hat zumindest die Verkehrsunfallforschung an der Technischen Universität Dresden herausgefunden. Deren Geschäftsführer, Henrik Liers, stellte fest, dass „Aquaplaning nicht das große Problem“ sei. Zwar ereigneten sich 25 Prozent der untersuchten Unfälle auf nasser Straße, doch nur bei weniger als einem Prozent war Aquaplaning tatsächlich die Ursache einer Karambolage. Eine Nebenrolle spielte dabei die Reifenprofiltiefe der Unfallfahrzeuge, die bei durchschnittlich 5,5 Millimetern und damit im grünen Bereich lag.

Nach Pierre Roberts Beobachtung kommt es extrem selten zu einem Millimeter oder mehr Wasser auf der Fahrbahn. Meist sei der Belag nur feucht, weil der Niederschlag zunächst die rauen Hohlräume der Piste füllt und sich nicht auf der Straße sammelt. Zudem reduzieren die Autofahrer bei leichtem Regen mit einer Niederschlagsmenge von ein bis drei Millimetern in der Stunde ihre Geschwindigkeit um durchschnittlich 15 km/h und wirken so der Aquaplaning-Gefahr entgegen. Bei mäßigem Regen (vier bis sieben Millimeter) drosseln sie das Tempo um 28 km/h und bei starkem Regen (über acht Millimeter) um 37 km/h. Von einer wirklich nassen Fahrbahn kann nach Meinung des Experten erst bei einem Niederschlag von 100 Millimetern pro Stunde die Rede sein, was einem ebenso heftigen wie seltenen Sommergewitter entspricht.

Bei den charakteristischen Spuren, die beim Fahren auf nasser Straße entstehen, liegt die Wassertiefe nach Aussage von Pierre Robert „noch unter einem Millimeter“. In Deutschland, so der Reifenfachmann, liegt der Anteil von tatsächlich nassen Straßen bei nur rund einem Prozent. In 82 Prozent der Fälle sei die Fahrbahn höchstens feucht. Und selbst eine Wassertiefe von 0,5 Millimetern käme nur zu 17 Prozent vor.

Mit einer „fundamentalen Säule“, so Michelins Entwicklungschef Terry Gettys, will der französische Reifenbäcker eine nachhaltige Strategie für Verbraucher und Umwelt starten, bei der die Sicherheit nicht zur Diskussion stehen soll. Deshalb möchte der Hersteller, dass Testinstitute und Verbraucherorganisationen nicht nur Neureifen prüfen, sondern auch gebrauchte Pneus mit einer Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern. Würden die Autofahrer die Reifen nämlich durchgängig bis zu diesem Grenzwert nutzen, hätte das positive Auswirkungen auf den Geldbeutel der Kunden und auf die Umwelt. Pierre Robert, der Leiter des Michelin-Projekts „Long Lasting Performance“ („langanhaltende Leistung“), beziffert die Einsparungen auf rund 130 Millionen Reifen pro Jahr und damit auf etwa sieben Millionen Euro. Dazu kämen ungefähr 6,6 Millionen Tonnen weniger Kohlendioxid.

Ob die Reifenhändler und die Wettbewerber von der noch am Anfang stehenden Michelin-Initiative sehr begeistert sind, ist noch nicht bekannt. Auf jeden Fall sind die Überlegungen und Argumente es wert, intensiv bedacht zu werden. „Wir wollen eine ganze Branche ändern zum Wohl der Konsumenten“, brachte es Entwicklungschef Gettys auf den Punkt. Michelin sieht sich nach seinem Bekunden in der Lage, Reifen zu entwickeln, die über die gesamte Lebenszeit sicher sind und sich bis zum Ende nutzen lassen, so dass der Kunde in den Genuss des vollen Werts seines gekauften Produkts kommt. Man darf gespannt sein, inwieweit sich alle diese Ziele in die Tat umsetzen lassen.
Quellen
    • Foto: © imageteam - Fotolia.com | Text: Thomas G. Zügner (kb)