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Im November 2014 überquerte der zum Unfallzeitpunkt noch minderjährige Rollstuhlfahrer einen mit Zeichen 350 nach § 42 II StVO gekennzeichneten Fußgängerüberweg. Dabei wurde er von dem bei der beklagten Kfz-Versicherung versicherten Fahrzeug des ebenfalls beklagten Fahrers angefahren. Er stürzte dabei aus dem Rollstuhl und verletzte sich und erlitt eine linksseitige Schädelprellung. Aufgrund einer Muskelschwunderkrankung war der 1999 geborene Geschädigte auf den Rollstuhl angewiesen.
Der Elektrorollstuhl des Geschädigten verfügt über einen Beckengurt. Dieser soll den Rollstuhlfahrer schützen, wenn er im Rollstuhl sitzend in einem Kraftfahrzeug transportiert wird.Die Eltern des minderjährigen Geschädigten beanspruchten von dem Fahrer und dessen Kfz-Versicherung als Gesamtschuldner ein Schmerzensgeld von insgesamt 950,-- €. Die beklagte Kfz-Haftpflichtversicherung zahlte vorgerichtlich 250,--€. Die hielt ein Mitverschulden des Geschädigten für gegeben, weil er den Beckengurt nicht angelegt habe.

Der Geschädigte, vertreten durch seine Eltern, klagte vor dem örtlich zuständigen Amtsgericht Bretten auf Zahlung des restlichen Schmerzensgeldes in Höhe von 700,-- €. Das Amtsgericht Bretten sprach mit Urteil vom 8.12.2015 – 1 C 222/15 – nur noch weitere 216,67 € zu und nahm ein Mitverschulden des Geschädigten von einem Drittel an. Eine Gehörsrüge wies das AG Bretten durch Beschluss vom 9.3.2015 – 1 C 222/15 – zurück. Dagegen und gegen das Urteil des AG Bretten richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

Das Bundesverfassungsgericht nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Der Beschwerdeführer ist nämlich in seinem Recht aus Art. 3 III 2 GG verletzt. Zwar sind Entscheidungen der allgemein zuständigen Gerichte nicht schlechthin einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung zugänglich. Feststellungen und Würdigungen des Sachverhaltes sowie Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind Sache dieser Gerichte und grundsätzlich einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert vielmehr nur, ob der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt wurde (vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; BVerfGE 89, 276, 285).

Im bürgerlichen Recht haben die Grundrechte als objektive Grundsatznormen Ausstrahlungswirkung auf Interpretationen von Generalklauseln (BVerfGE 7, 198, 204 ff; BVerfGE 42, 143,148; BVerfGE 81, 40, 52). Nach Art. 3 III 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen (BVerfGE 99, 341, 357). Untersagt sind auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil führen. Das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 III 2 GG ist ein Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung. Nach dem Willen des Verfassungsgebers fließt das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen als Teil der objektiven Wertordnung auch in die Auslegung des Zivilrechtes ein (BVerfGE 99, 341, 356; BVerfG NJW 2000, 2658, 2659).

Die Würdigung der Frage eines etwaigen Mitverschuldens des Geschädigten gemäß § 254 I BGB an seiner durch den nicht angelegten Beckengurt objektiv mitverursachten Verletzung ist daher im Lichte der grundgesetzlichen Bestimmung des Art. 3 III 2 GG zu sehen (BVerfG Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.3.2016 – 1 BvR 2012/13 Rn. 11). Nach diesen Grundsätzen ist die vom Amtsgericht Bretten in dem angegriffenen Urteil vorgenommene Anspruchskürzung gemäß § 254 BGB mit dem Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar, weil die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 III 2 GG nicht hinreichend berücksichtigt hat. Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedankezugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat. Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen des § 254 BGB um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit.

Ein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB liegt bereits dann vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Nur dann, wenn das Anlegen des Beckengurtes auch bei der eigenständigen Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr, nicht nur bei der Beförderung in einem Fahrzeug, nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz geboten war, läge ein beachtliches Mitverschulden des verletzten Rollstuhlfahrers vor. Das ist jedoch nicht festgestellt. Das Amtsgericht hat weder dargetan noch ist sonst ersichtlich, dass ein allgemeines Verkehrsbewusstsein das Anlegen eines Gurtes im Rollstuhl gebietet. Das Urteil des Amtsgerichts verstößt daher gegen Art. 3 GG. Das Urteil wird daher aufgehoben. Der abweisende Beschluss bezüglich der Gehörsrüge ist gegenstandslos.

Fazit und Praxishinweis: Es ist schon menschenverachtend, wie eine deutsche Kfz-Haftpflichtversicherung bei einem eindeutig vom Fahrer des versicherten Kraftfahrzeugs verursachten Verkehrsunfall auf einem gut sichtbar beschilderten Fußgängerüberweg, den ein Rollstuhlfahrer benutzte, um die Fahrbahn zu überqueren, ein Mitverschulden des Rollstuhlfahrers einwenden kann.Der Verkehrsverstoß des Kraftfahrers ist so gravierend, dass jegliches eventuelles Mitverschulden hinter dem Verschulden des Fahrers und der Betriebsgefahrdes Kraftfahrzeuges zurücktreten würde. Dann auch noch zu behaupten, der Verletzte habe ein Mitverschulden zu tragen, weil er im Rollstuhl nicht angeschnallt war, grenzt an Arroganz. Demnächst fordert diese Versicherung auch noch bei Fußgängern das Tragen von Schutzhelmen. Zu Recht hat daher das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Amtsgerichts, das den obskuren Argumenten der Versicherung gefolgt war, aufgehoben.
Quellen
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