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Bundesverfassungsgericht entscheidet über Unfall einer Rollstuhlfahrerin
Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 24.3.2016 – 1 BvR 2012/13 –

RFWW

Die Geschädigte leidet an einer Querschnittslähmung und ist seit 1985 auf die Benutzung eines Rollstuhles angewiesen. Sie ist auch Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises, der die Nachteilsmerkmale "G, aG, H und RF" aufweist.
Am 6.11.2009 parkte sie gegen 17.30 Uhr auf einem von zwei von der beklagten Stadt R. in Schleswig-Holstein eingerichteten und ausgeschilderten Behindertenparkplätzen am Rathaus. Die Behindertenparkplätze sind mit unregelmäßigen Kopfsteinen gepflastert. Als sie vom Wagen in ihren bremsgesicherten Rollstuhl umsteigen wollte, den sie vom Fahrersitz auf das Pflaster gestellt hatte, rutschte der Rollstuhl seitlich weg und die spätere Klägerin stürzte. Sie zog sich einen Bruch des rechten Unterschenkels zu.

Wegen der eingetretenen Schäden und Verletzungen verlangte die Geschädigte von der Stadt R in Schleswig-Holstein Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 4.957,-- €. Das zunächst örtlich und sachlich zuständige Landgericht wies die Klage ab. Die dagegen gerichtete Berufung wurde durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht in Schleswig mit Beschluss gemäß § 522 II ZPO zurückgewiesen. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des OLG Schleswig. Die Verfassungsbeschwerde wurde durch das BVerfG angenommen.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Zwar sind Entscheidungen der allgemein zuständigen Gerichte nicht schlechthin einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglich, weil die Feststellung und Würdigung des Sachverhaltes sowie Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Sache der Fachgerichte ist und grundsätzlich einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen ist. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert nur, ob dabei der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt worden ist (vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; BVerfGE 89, 276, 285). Im bürgerlichen Recht haben die Grundrechte als objektive Grundsatznormen Ausstrahlungswirkung, die vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsfähigen und wertungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen ist (vgl. BVerfGE 7, 198, 204 ff; BVerfGE 42, 143, 148; BVerfGE 81, 40, 52).

Nach Art. 3 III 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Eine Schlechterstellung Behinderter ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen (vgl. BVerfGE 99, 341, 357). Eine nach Art. 3 III 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der bestehenden Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird (vgl. BVerfGE 96, 288, 303). Das Verbot der Benachteiligung Behinderter gemäß Art. 3 GG ist ein Grundrecht und zugleich auch eine objektive Wertentscheidung. Aus diesem Grundrecht folgt, dass der Staat eine besondere Verantwortung für die behinderten Menschen trägt (BVerfGE 96, 288, 304). Das fließt auch in das Zivilrecht ein.

Die Verkehrssicherungspflicht der beklagten Gemeinde R. für den von ihr eingerichteten und als solchen gekennzeichneten Behindertenparkplatz ist daher im Lichte der Bestimmung des Art. 3 GG zu sehen. Ebenso hat dies bei der Würdigung der Frage des Mitverschuldens der Geschädigten an ihrem Unfall gemäß § 254 BGB zu geschehen. Nach diesen Grundsätzen ist die zu einem vollständigen Anspruchsausschluss führende Anwendung des § 254 I BGB zu Lasten der Geschädigten durch den angegriffenen Beschluss des OLG Schleswig mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar, weil sie die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 GG ins Zivilrecht außer Acht lässt. Auch wenn die später Geschädigte die Beschaffenheit des Parkplatzes mit dem Kopfsteinpflaster kannte, so nutzte sie doch einen Parkplatz, der speziell für Menschen mit Behinderungen geschaffen wurde. Eine nicht rollstuhlgerechte Ausgestaltung des Behindertenparkplatzes stellt eine Benachteiligung in diesem Sinne dar. Daraus ist eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht der beklagten Stadt R. in Schleswig-Holstein abzuleiten. Da die Frage des behindertengerechten Ausbaus des Parkplatzes noch entschieden werden muss, um abschließend zur Frage des Mitverschuldens entscheiden zu können, ist der Rechtsstreit an das OLG des Landes Schleswig-Holstein zurückzuverweisen.

Fazit und Praxishinweis: Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Verfassungsbeschwerde der verletzten Rollstuhlfahrerin den Beschluss des OLG Schleswig aufgehoben. Die Stadt R. in Schleswig-Holstein hat zwar einen optisch schönen Behindertenparkplatz mit Kopfsteinpflaster eingerichtet, behindertengerecht ist der Oberflächenbelag mit unregelmäßigen Kopfsteinen allerdings nicht. Es hätte sicheine Oberflächengestaltung mit regelmäßig geformten Pflastersteinen angeboten. Gerade für blinde Mitmenschen, die ebenfalls diesen Behindertenparkplatz durch eine Begleitperson benutzen können,ist dieser unebene Oberflächenbelag gefährlich. Es liegt daher in der Gestaltung des im Streit befindlichen Behindertenparkplatzes eine erhebliche Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Stadt R. vor. Diese eigene Schuld kann sie nicht vollständig auf die Verletzte im Rahmen des § 254 BGB abwälzen.Stadt und Gemeinden haben Straßen, Wege und Plätze so zu gestalten, dass niemand geschädigt wird.
Quellen
    • Foto: eyetronic - Fotolia.com