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Unfallopfer muss nicht Restwertgebot der Versicherung abwarten
Kammergericht Berlin Urteil vom 6.8.2015 - 22 U 6/15 –

RFWW

Durch einen unverschuldeten Verkehrsunfall wurde der Pkw des Unfallopfers derart stark beschädigt, dass ein wirtschaftlicher Totalschaden eingetreten war. Der Geschädigte beauftragte einen qualifizierten Kfz-Sachverständigen, ein Schadensgutachten zu erstellen.
In dem Gutachten war ein Restwert aufgrund von zwei regionalen Restwertaufkäufern angegeben. Der Geschädigte veräußerte, ohne ein Restwertgebot der eintrittspflichtigen Kfz-Haftpflichtversicherung abzuwarten, das verunfallte Fahrzeug zu dem Höchstbetrag aus dem Gutachten. Die regulierungspflichtige Kfz-Haftpflichtversicherung legte jedoch ihrer Schadensabrechnung ein höheres Restwertgebot aus der Restwertbörse zugrunde. Der Differenzbetrag ist Gegenstand des Rechtsstreites. Das Kammergericht gab in zweiter Instanz dem Geschädigten Recht.

Die eintrittspflichtige Kfz-Haftpflichtversicherung war nicht berechtigt, eine Kürzung des Schadensersatzanspruchs des Klägers vorzunehmen. Die beklagte Kfz-Haftpflichtversicherung war zur Zahlung des im Streite stehenden Betrages gemäß § 249 BGB verpflichtet. Dem Kläger kann auch kein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB vorgeworfen werden. Es gibtkeine allgemeine Pflicht, ein Restwertangebot abzuwarten, dass die gegnerische Versicherung bei der Internetrecherche außerhalb des – für das Unfallopfer zugänglichen – regionalen Markts gefunden hat. In Bezug auf die Restwerthöhe darf der Geschädigte vielmehr den Angaben des Sachverständigen Glauben schenken beziehungsweisesich an den Angeboten auf dem regionalen Markt orientieren – selbst wenn sie für den jeweiligen Versicherer ungünstig sind. Dabei durfte der Geschädigte in diesem Fall auch auf das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten des Kfz-Sachverständigen vertrauen.

Das Gutachten war nämlich entgegen der Auffassung der Beklagten formal in Ordnung, auch wenn der Sachverständige nur zwei Restwertangebote einholen konnte. Dem Unfallopfer darf ein Mitverschulden vor allem dann angerechnet werden, wen es sich an einem Gutachten orientiert, das offensichtlich keine verlässliche Grundlage für die Ermittlung des Restwerts darstellt. Letzteres wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Kfz-Sachverständige lediglich drei Angebote auf dem regionalen Markt eingeholt hätte. Obwohl der Gutachter im vorliegenden Fall allerdingsnur zwei Angebote eingeholt hat, traf den Geschädigten dennoch kein Verschulden – schließlich existierten auch bloß diese beiden Angebote auf dem regionalen Markt, was dem Unfallopfer nicht angelastet werden durfte. Im Übrigen musste der Geschädigte vor dem Verkauf des Unfallwagens auch kein Restwertangebot der gegnerischen Versicherung abwarten. Der Unfallwagen gehörte ihm – daher konnte er auch entscheiden, ob und wann er sein Eigentum verkaufen möchte. Alternativ hätte er das Kfz auch nach § 249 I BGB reparieren lassen oder auf eine Reparatur verzichten und stattdessen fiktive Reparaturkosten nach § 249 II BGB verlangen können. Müsste der Geschädigte, wie die Beklagte zu glauben scheint,stets auf ein Restwertangebot der gegnerischen Versicherung warten und dies sogar zwingend annehmen, könnte er über die – ihm eigentlich wahlweise zur Verfügung stehenden – Verwertungsmodalitäten nicht mehr frei entscheiden.

Er müsste den Wagen vielmehr zwingend verkaufen, wenn diese Vorgehensweise für den Versicherer finanziell von Vorteil wäre. Das würde jedoch die Rechte des Geschädigten zu stark einschränken. Aus demselben Grund müsste er selbst dann kein Restwertangebot abwarten, wenn es zuvor ausdrücklich von der Versicherung angekündigt wurde. Anderes gilt ausnahmsweise, wenn der Versicherer rechtzeitig vor dem Verkauf des Unfallfahrzeugs ein zumutbares und deutlich höheres Restwertangebot vorgelegt hat. In diesem Fall müsste der Geschädigte es annehmen – und zwar selbst dann, wenn es sich um ein Angebot außerhalb des regionalen Markts handelt. Vorliegend hatte der Geschädigte jedoch vor der Veräußerung kein Restwertangebot erhalten.Er durfte daher sein Unfallfahrzeug an den Käufer seiner Wahl veräußern.

Fazit und Praxishinweis: Das erkennende Kammergericht in Berlin liegt mit seiner vorstehend veröffentlichten Entscheidung auf der Linie der herrschenden Rechtsprechung und Literatur. Die Dispositionsfreiheit steht nach wie vor dem Geschädigten zu. Der eintrittspflichtige Kfz-Haftpflichtversicherer kann nicht bestimmen, was der Geschädigte mit seinem beschädigten Eigentum zu machen hat. Nur dann, wenn rechtzeitig vor einer Veräußerung des Unfallfahrzeugs durch den Geschädigten ein akzeptables Restwertgebot der Versicherung vorliegt, kann der Geschädigte gehalten sein, von einem beabsichtigten Verkauf abzusehen und das Restwertgebot der Versicherung anzunehmen. Dann muss aber das Restwertgebot rechtzeitig bei dem Geschädigten eingegangen und für den Geschädigten ohne weiteres annehmbar sein.
Quellen
    • Foto: Andrey Kokidko - Fotolia.com