Auch bei Stop-and-Go-Verkehr auf Autobahn kein Reißverschlussverfahren an Auffahrten
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RobGal -
27. Juli 2017 um 10:55 -
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Immer wieder kommt es an Baustellen oder Fahrbahnverengungen auf mehrspurigen Straßen zu Irritationen der Kraftfahrer. Nach § 7 IV StVO gilt das Reißverschlussverfahren auf Straßen mit mehreren Fahrspuren in einer Richtung an einer Engstelle, dass die Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel an der Engstelle vorbeifahren. Was gilt aber, wenn auf der mehrspurigen Fernstraße der Verkehr nur noch im Schritttempo fließt und andere Verkehrsteilnehmer an den Auffahrten sich in den langsam fließenden Verkehr auf der Fernstraße einfädeln wollen? Gilt auch hier das Reißverschlussverfahren? Diese Frage hatte das Amtsgericht Essen wegen eines Unfalls an der Auffahrt Essen-Rüttenscheid der Bundesautobahn A 52 zu beantworten, weil es zwischen dem auf der rechten Autobahnspur fahrenden Lkw und einem vor ihm einfahrenden Pkw zur Kollision kam. Die auffahrende Pkw-Eigentümerin beansprucht von dem Fahrer, dem Halter und dem Haftpflichtversicherer des Lkws Schadensersatz wegen der an ihrem Pkw entstandenen Schäden.
Am 17.11.2014 gegen 9.14 Uhr ereignete sich an der Anschlussstelle Essen-Rüttenscheid der Bundesautobahn A 52 in Essen auf der Richtungsfahrbahn Düsseldorf ein Verkehrsunfall zwischen einem Lkw und einem Pkw. Die spätere Klägerin ist Halterin des Pkw VW-Golf, der an der Anschlussstelle Essen-Rüttenscheid auf die Autobahn in Richtung Düsseldorf auffahren wollte. Auf der Autobahn A 52 fuhr der beklagte Fahrer mit dem Lkw des beklagten Halters auf dem rechten Fahrstreifen. Auf der A 52 in Richtung Düsseldorf herrschte Stop-and-Go-Verkehr. Die beiden Fahrzeuge stießen zusammen. Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Lkw-Fahrer ihr bei Stop-and-go-Verkehr das Einfahren im Reißverschlussverfahren hätte ermöglichen müssen. Sie klagte daher die Hälfte ihres Fahrzeugschadens vor dem örtlich zuständigen Amtsgericht Essen ein. Die Klage blieb erfolglos.
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagten kein Schadensersatzanspruch aus § 7 I StVG zu. Der Unfall vom 17.11.2014 stellt sich für keine der Parteien als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis dar. Der Umfang der Haftung bestimmt sich daher gemäß § 17 StVG danach, inwieweit der Unfall überwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die vom Gericht vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt im Streitfall zu einem Alleinverschulden der Klägerin. Die Klägerin wollte auf die Autobahn auffahren. Nach § 18 III StVO hat der auf eine Autobahn Auffahrende dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren. Der Auffahrende muss dabei den Verkehr auf der Autobahn beobachten und trägt das volle Risiko, wenn der Verkehr auf der Autobahn auf seine Vorfahrt vertraut.
Kommt es in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtverletzung zu einem Unfall, so spricht für den Wartepflichtigen der Anschein einer schuldhaften Vorfahrtverletzung (vgl. Hentschel-König 41. A. 2011, 3 8 StVO Rdnr. 68, 69). Dabei ist § 18 III StVO nicht auf das Einfädeln bei zähfließendem Verkehr auf der Autobahn beschränkt. Auch bei zähfließendem Verkehr oder Stop-and-Go-Verkehr - wie im streitgegenständlichen Fall - gilt beim Einfädeln auf die Autobahn nicht das Reißverschlussverfahren. Vielmehr hat der Verkehr auf den durchgehenden Fahrstreifen Vorrang mit der Folge, dass bei einem Unfall zwischen einem vom Beschleunigungsstreifen auf den rechten Fahrstreifen der Autobahn einfahrenden Verkehrsteilnehmer und einem Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen der Autobahn der Beweis des ersten Anscheins für ein Alleinverschulden des Einfahrenden spricht (OLG Köln NZV 2006, 420; LG Essen Beschl. v. 8.4.2013 - 15 S 48/13 -). Nur wenn der Einfahrende nachweisen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte die Möglichkeit hatte, unfallvermeidend abzubremsen, trifft ihn ein Mitverschulden (vgl. Hentschel-König § 18 StVO Rdnr. 17; KG NZV 2008, 244). Eine solche Erkennbarkeit ihres Fahrstreifenwechsels für den beklagten Lkw-Fahrer konnte die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts nicht nachweisen. Die Klage war daher abzuweisen.
Fazit und Praxishinweis: Das Reißverschlussverfahren gilt nicht für Auffahrten auf die bevorrechtigte Bundesautobahn oder sonstige mehrstreifige Bundesfernstraße. Dies gilt auch, wenn auf der Bundesautobahn oder Bundesfernstraße zähfließender Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr herrscht. Ansonsten ist das Reißverschlussverfahren jedoch zwingend vorgeschrieben. Das Reißverschlussverfahren gilt nach § 7 IV StVO: Ist auf Straßen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder endet ein Fahrstreifen, so ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils abwechselnd hinter einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können.