Kinetose: Warum wird Passagieren in autonomen Autos übel?
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RobGal -
15. Juli 2019 um 13:37 -
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<p>Die Forscher in den Entwicklungszentren der Automobilindustrie sind in Aufruhr, sagt Horst Wieker. Der Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes beschäftigt sich intensiv mit automatisierten Fahrsystemen und war wie seine Kollegen in der Autoindustrie überrascht, dass empfindlichen Menschen beim automatisierten Fahren genauso übel werden kann wie in herkömmlichen Autos. Das hatte man bei all den Glücksversprechen für die Zukunft der fahrerlosen Automobilität offenbar nicht auf der Rechnung.</p>
Die Forscher in den Entwicklungszentren der Automobilindustrie sind in Aufruhr, sagt Horst Wieker. Der Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes beschäftigt sich intensiv mit automatisierten Fahrsystemen und war wie seine Kollegen in der Autoindustrie überrascht, dass empfindlichen Menschen beim automatisierten Fahren genauso übel werden kann wie in herkömmlichen Autos. Das hatte man bei all den Glücksversprechen für die Zukunft der fahrerlosen Automobilität offenbar nicht auf der Rechnung.
Warum jemandem während der Fahrt schlecht wird, weiß man noch nicht genau. Bei der Reisekrankheit, Fachbegriff „Kinetose“ (vom altgriechischen Wort „kinein“ für „sich bewegen“), wird man zur See, auf der Straße, in der Luft oder sogar im Weltraum schnell blass und klagt nach einiger Zeit über Schwindel und kalten Schweiß. Oft treten die Symptome erst bei einer bestimmten Tätigkeit auf, etwa beim Lesen. Die Beschwerden können sich bis zu starker Übelkeit und Erbrechen steigern. Es sind nicht wenige Menschen, die an Kinetose leiden. Bei einer Untersuchung der Berliner Universitätsklinik Charité stellte sich heraus, dass von 500 befragten Personen über 40 Prozent schon einmal solche Probleme hatten. Betroffen sind vor allem Kinder und Beifahrer, die während der Fahrt lesen. „Entsprechend kann Kinetose die flexible Nutzung des Raums im Auto, die durch das automatisierte Fahren entsteht, stark beeinträchtigen“, meinen die Berliner Ärzte. Genau das wird der Grund sein, warum die Alarmglocken in der Automobilwirtschaft schrillen. Die Unternehmen betreiben immerhin einen immensen Aufwand und wenden Unsummen für die Entwicklung der selbstfahrenden Systeme auf. Bereits heute wollen sie die künftigen Käufer mit Versprechungen auf den Geschmack bringen, dass man im Roboterauto allen möglichen Tätigkeiten werde nachgehen können: entspannen, lesen, Gespräche führen bis zum Arbeiten. Den Passagieren werde beim automatisierten Fahren die Zeit „zurückgegeben“, heißt es bereits. Doch wenn den umworbenen Kunden speiübel wird, werden sie den Teufel tun und sich in solch ein Fahrzeug hineinsetzen.
Widerspruch zwischen Innenohr und Auge
Da wundert es nicht, dass die von Bund und Ländern finanzierte Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) nicht weniger als 700.000 Euro für ein Forschungsprojekt der TU Berlin und der Charité aufbietet. Dabei soll geklärt werden, was die Ursache für die Reisekrankheit überhaupt ist, weshalb bestimmte Menschen anfällig sind und andere nicht und wie sich die Leiden beim autonomen Fahren vermindern lassen. Uwe Schönfeld von der HNO-Klinik der Charité und seine Kollegen gehen zum Beispiel der Frage nach, ob sich die Krankheit durch Veränderungen an der Fahrzeugtechnik vermeiden lässt, zu denken wäre an aktive Fahrwerke oder Sitze. Wie beim bereits vielfach anzutreffenden Müdigkeitsassistenten, der einen schläfrig werdenden Fahrer auf eine nötige Pause aufmerksam macht, könnte das Auto eine beginnende Kinetose automatisch erkennen und frühzeitig Gegenmaßnahmen einleiten, etwa eine Änderung im Fahrstil. Die Forscher wollen mit Testpersonen zunächst einmal die Neigung zu der Krankheit und ihren Verlauf kategorisieren und Muster für die Entwicklung der Symptome aufspüren, um unterschiedliche Krankheitsverläufe zu identifizieren. Außerdem beabsichtigen sie, physiologische Daten über die Funktion der Gleichgewichtsorgane im Innenohr zu erheben. Es wird nämlich allgemein angenommen, dass die Krankheit durch den Widerspruch ausgelöst wird, dass einerseits das Gleichgewichtsorgan die Fahrbewegungen registriert und andererseits die Augen auf ein unbewegtes Buch gerichtet sind. Man kennt den Effekt auch, wenn man in der virtuellen Welt eine Achterbahnfahrt macht, sich real aber nicht von der Stelle bewegt. Uber hat das Problem der Reisekrankheit auch schon entdeckt. Der US-amerikanische Fahrdienstvermittler Uber, der zusammen mit Volvo an einer Flotte autonomer Taxis arbeitet, merkt an, dass der Innenraum herkömmlicher Autos vorrangig als Fahrerarbeitsplatz gestaltet wurde und wird. In autonomen Fahrzeugen der Zukunft wird es jedoch um die Aufmerksamkeit aller Fahrgäste gehen. Hier hofft Uber „Design-Führer“ zu werden. Daher denkt das Unternehmen über ein „sensorisches Simulationssystem“ nach, welches das Gehirn mittels vibrierender Sitze, Luftstößen oder optischer Effekte austricksen soll. Augen und Ohren würden quasi synchronisiert, in der Hoffnung, dass die Passagiere dann doch anderen Tätigkeiten nachgehen können, ohne dass ihnen schlecht wird. Denn fast mehr noch als die Reisekrankheit fürchtet Uber, dass sich die Fahrgäste im Robotertaxi langweilen – nicht, dass sie sich nach dem guten, alten Lenkrad sehnen.