Formgestaltung: Der Trabant als Avantgarde
-
RobGal -
21. November 2019 um 09:34 -
0 Kommentare -
21.840 Mal gelesen
In diesen Tagen jährte sich der Gründungstag der DDR zum siebzigsten Mal und der Tag des Mauerfalls zum dreißigsten Mal. Aus diesem Anlass drucken wir hier einen kb-Artikel aus dem Jahr 2003 erneut ab – die Redaktion
Ein bisschen Verbitterung schwingt mit, wenn Professor Clauss Dietel von seinem Arbeitsleben erzählt. Der 69jährige [Dietel wurde kürzlich 85 Jahre alt – Red.] ist Formgestalter. Das hat er ebenso studiert wie Kraftfahrzeugbau, und diese Kombination prägte den überwiegenden Teil seines Berufslebens. Ironie des Schicksals: Von ihm gestaltete Büromaschinen oder Radios wurden erfolgreich produziert, die Autos, die er zeichnete und formte, gingen niemals in Serie. Dabei waren seine Entwürfe wegweisend; ihrer Zeit um Jahre, ja oft Jahrzehnte voraus. Clauss Dietel hat schlicht Pech gehabt. Er lebte im Deutschland der verplanten Mangelwirtschaft, in der DDR. Im Osten kennt sie jeder, die Kleinkrafträder „Sperber“ und „Star“ aus Suhl. Nicht ganz ohne äußere Zwänge (die Mehrzahl der Bauteile war vorgegeben) begann damit die Zusammenarbeit von Dietel, seinem langjährigen Partner Lutz Rudolph und der Thüringer Traditionsfirma Simson.
Doch kaum jemand hat bislang gesehen, wie sich die beiden Gestalter einen modernen, kleinen Motorroller vorstellten. Das Modell mit dem Namen „Supra“ von 1967 besticht noch heute durch Formvollendung, Eleganz und Funktionalität. Gebaut wurde dieser Roller nie. Erst zwanzig Jahre später kam ein anderer, gleichfalls unkonventioneller Dietel/Rudolph-Entwurf in die Serienproduktion: der Roller „SR 50“. In großer Zahl auf die Straßen des mobilitätshungrigen deutschen Oststaates gelangte dagegen ein Zweirad, das die Philosophie der Gestalter im wahrsten Sinne des Wortes offenlegte: das Mokick „S 50“. Alles an diesem Kleinkraftrad ist sichtbar und gut zugänglich. Neben dem ästhetischen Wert hatte dieses „offene Prinzip“ einen sehr praktischen Nutzen: Wartung, Reparatur und sogar Ergänzung der Technik wurden dem Self-Service gewöhnten Fahrer in der DDR leicht gemacht. Doch auch „große“ Motorräder tragen die Handschrift von Dietel und Rudolph. Beim DKW-Nachfolger MZ in Zschopau gestalteten sie die Baureihe „ETZ“ wesentlich mit, die besonders unter DDR-Jugendlichen sehr beliebt war.
Seiner Zeit voraus
Überwiegend unerfüllt blieb jedoch die Liebe der beiden Kreativen zum Automobil. Zwar lehnt sich die Gestaltung des Wartburg 353 sehr weit an Entwürfen Dietels an, doch wurde das Revolutionäre seiner Linienführung nicht erkannt. Schon die Studie zu seiner Diplomarbeit („Pkw der unteren Mittelklasse“, 1961) nimmt mit gerundetem Bug (fünf Jahre später beim NSU Ro 80 verwirklicht) und der Keilform des Motorraums (erstmals beim VW Golf in Großserie realisiert und heute Standard) spätere Entwicklungen vorweg. Früh erkannte Dietel den Nutzen der später Steil- oder Fließheck genannten kombihaften Form des Hinterwagens. „Auto bis hinten hin“ nannte er es mangels einer eingeführten Bezeichnung. Überhaupt: Seine Wagen gestaltete er „von innen nach außen“. Neben Bequemlichkeit und Sicherheit sollten sie maximalen Nutzraum bei optimalen Außenmaßen bieten.
Forderungen, die heute zum Repertoire aller Autohersteller gehören. Das geht aber nur bei Verzicht auf das traditionelle Stufenheck. Dietels Überzeugung, dass Vollheckkarosserien aerodynamische Vorteile bringen, hat sich später vielfach in der Praxis bestätigt. Der große Erfolg als Automobildesigner blieb Dietel und Rudolph versagt. Ein unkonventionelles Steilheck-Coupé für Wartburg (1965) hatte angesichts der beschränkten materiellen Kapazitäten des Werkes in Eisenach und der noch beschränkteren geistigen Kapazitäten der DDR-Wirtschaftslenker keine Chance. Entwürfe für avantgardistische Lkw und Busse verblichen in Schubladen.
Eine Geschichte verpasster Gelegenheiten ist auch die Chronik des „Trabant“, dem einst das Schicksal ewigen Weiterbaues beschieden schien. 1964 aus den technisch fast gleichwertigen Vorgängern „P 50“ beziehungsweise „P 60“ hervorgegangen, war der Trabant 601 seinerzeit allerdings nur als vorübergehende Lösung geplant. Bereits ab 1963 arbeitete man an technischen (zum Beispiel Kreiskolbenmotor!) und gestalterischen Neukonzeptionen. Von 1966 bis zur Mitte der 80er Jahre wurden mit erheblichem Aufwand mindestens fünf Modelle mit einer Vielzahl von Modifikationen entwickelt und – in Kenntnis der Kraftarmut der DDR-Wirtschaft – verworfen. Die Tragik: Dietel und Rudolph und selbstverständlich die Entwickler des Sachsenring-Werkes hatten Entwürfe vorgelegt, derer sich selbst heutige Designer nicht schämen müssten.
Zehn Jahre vor dem ersten VW Golf entstand mit dem P 603 ein komplettes Vollheckfahrzeug! Zwanzig Jahre hatten Dietel und Rudolph an Nachfolgekandidaten für den Uralt-Trabant gearbeitet, als 1984 die Politiker entschieden, unter den weiter zu bauenden alten Hut einen in VW-Lizenz gebauten Viertaktmotor zu setzen. Für Dietel und Rudolph war diese „Wahnsinnsidee“ Anlass, die Bemühungen für einen zeitgemäßen DDR-Kleinwagen für immer einzustellen. Mit ihrer wohl spektakulärsten Studie reagierten die Gestalter 1971 auf einen nicht an industrielle Vorgaben gebundenen Auftrag zum Entwurf eines Kleinwagens. Auf breiter Spur und langem Radstand unter kurzer Karosserie entstand ein namenloses Modell, das einmal mehr zukünftige Entwicklungen vorwegnahm. Erst zwanzig Jahre später kam mit dem Twingo von Renault ein ähnliches Fahrzeug auf den Markt.
Dauerhafte Nützlichkeit statt Schein
Wer Clauss Dietel in dessen Gegenwart einen Designer nennt, könnte auf Einspruch stoßen. Dietel besteht darauf, Gestalter zu sein. Den Begriff „Design“ verbindet er mit schnell vorübergehender, eher oberflächlicher Mode, die Gegenstände moralisch verschleißen lässt, während ihr Gebrauchswert unvermindert andauert. So funktioniert die Konsumwelt der Industriegesellschaft mit ihrer Verschwendung von Arbeit und Material. Da mag Dietel nicht mittun. Sein Ziel sind Produkte, deren Form die Funktion unterstützt und die Gebrauchswert wie Ästhetik so lang als möglich bewahren. Formschöne, vernünftige Dinge eben.