Lkw: Wie lassen sich Abbiegeunfälle am besten vermeiden?
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RobGal -
4. Dezember 2019 um 12:06 -
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Wenn jemand sich die Vorfahrt einfach nimmt oder ohne Rücksicht auf Verluste darauf pocht, dann ist „genau dieser Egoismus das Problem für die Verkehrssicherheit – wenn die eigenen Interessen mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollen“, meint Jörg Ahlgrimm, Präsident der Europäischen Vereinigung für Unfallforschung und Unfallanalyse (EVU). Es sei zwar nur eine Minderheit, die sich derart rücksichtslos im Straßenverkehr verhalte, sagt der gelernte Ingenieur. „Doch die bereitet große Probleme.“ Besonders heikel ist diese „Rambo-Mentalität“ (Ahlgrimm), wenn die stärksten und die schwächsten Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen.
Es geschehen schon genug schwere Unfälle zwischen Lkw und den „ungeschützten Verkehrsteilnehmern“, also den Fußgängern und Radfahrern. 2017 handelte es sich bei etwa jedem dritten Verkehrsunfall mit Personenschaden zwischen diesen beiden Gruppen um eine Abbiegesituation, wie der Deutsche Verkehrssicherheitsrat errechnet hat. Knapp 40 Menschen kommen dabei jährlich zu Tode, drei Viertel davon könnten nach Untersuchungen der Versicherungswirtschaft noch leben, wenn alle Lastwagen mit einem Abbiegeassistenten ausgerüstet wären.
Diese Systeme warnen den Fahrer vor Zweirädern und Fußgängern im toten Winkel rechts neben seinem Fahrzeug. Das Bundesverkehrsministerium unterstützt die Nachrüstung mit diesen Systemen, 2022 werden sie Pflicht für alle Neu-Lkw in der EU. Jedoch besteht Unsicherheit darüber, welches die beste Technologie ist. Es gibt Radar-, Ultraschall- und kamerabasierte Systeme, teilweise miteinander kombiniert oder mit „intelligenter“ Erkennungssoftware ausgestattet.
Um Erfahrungen und Akzeptanz der unterschiedlichen Konzepte in der Praxis zu untersuchen, hat das Verkehrsministerium von Baden-Württemberg einen Feldversuch mit 500 nachgerüsteten Lkw von 84 Unternehmen aus verschiedensten Branchen initiiert. Erste Ergebnisse wurden bei einem von Dekra ausgerichteten „Zukunftskongress Nutzfahrzeuge“ Mitte November in Berlin vorgestellt.
Dabei gaben mehr als drei Viertel der Unternehmer an, sich der Sicherheit wegen für einen Abbiegeassistenten entschieden zu haben, wie der Verband der Spedition und Logistik Baden-Württemberg (VSL) ermittelte. Finanzielle Vergünstigungen oder ein Imagegewinn seien nachrangige Motive gewesen. Mit einem Anteil von 62 Prozent ist die Kombination von Kamera, Monitor und akustischem Warnhinweis mit Abstand der Favorit. Wie sehr das Thema beschäftigt, zeigen erste Resultate der Fahrerumfrage: 58 Prozent geraten demnach mindestens jede Woche ein Mal in eine brenzlige Situation beim Rechtsabbiegen.
Kontroversen
Unzufrieden zeigten sich die Unternehmen mit Ultraschallsystemen, weil es damit zu häufigem Fehlalarm komme, sagte Isabelle Meyer vom VSL. Das reduziere die Akzeptanz bei den Fahrern. Die Kritik an den Ultraschallgeräten wollte Anton Klott nicht stehenlassen. Er ist technischer Leiter beim Einzelhandelsunternehmen Edeka und hat einen Abbiegeassistenten mitentwickelt, der nun bei Teilen der Edeka-Flotte zum Einsatz kommt. „Es gibt keinen Fehlalarm“, meinte Klott vor dem Nutzfahrzeugkongress, „sondern nur den Hinweis: Lieber Fahrer, schau mal bitte nach, da ist irgendetwas!“
Dekra-Fachmann Stefan Hladik wies darauf hin, dass auch Kameras einen Nachteil haben, und zwar bei Nacht, wenn alles dunkel ist. Trotzdem sieht er die Zukunft in Kamerasystemen, und zwar in Verbindung mit intelligenter Software und „Entscheidungshilfe“. Allerdings müsse die Erkennung von parkenden Autos und von Straßengrün besser werden.
Eine Diskussionsrunde von Experten zeigte sich beim Nutzfahrzeugkongress einig, dass die Abbiegeassistenten bereits jetzt eine „Erfolgsgeschichte“ seien, erst recht, wenn sie ab Werk eingebaut und dann noch besser funktionieren werden. Diskussionen wie in Österreich, wo über Abbiegeverbote für Lkw in Städten nachgedacht wird, wurden von den Fachleuten als nicht zielführend zurückgewiesen.
Gegen diese Auffassung erhob sich jedoch Widerspruch aus dem Publikum der Konferenz. Man könne nicht von einer Erfolgsgeschichte sprechen, sagte ein mittelständischer Unternehmer sichtlich engagiert, wenn die Transport- und Speditionsbranche mit jährlich 700 Verkehrstoten der Wirtschaftsbereich mit den meisten Unfalltoten sei. Die Diskussion in Österreich sei angeregt worden von einer Gruppe deutscher Unternehmer, so der Mann weiter, die an bestimmten Kreuzungen das Rechtsabbiegen von Lkw verbieten lassen wollen, „wo dies schon aus Sicherheitsgründen einfach nicht möglich ist“.
Einen Blick auf die technologische Zukunft des Abbiegeassistenten warf Christian Eilers von Continental. Er gestand radarbasierten Abbiegeassistenten zwar eine verlässliche Objekterkennung zu, jedoch versage die Technik bei der Unterscheidung von Radfahrern und Fußgängern und bei der Prognose ihrer Bewegungsrichtung. „Radar ist gut für einen Hinweis, aber nicht für eine Notbremsung“, sagte Eilers. Genau diese Verbindung von Abbiege- und Notbremsassistent wird von Sicherheitsexperten jedoch gefordert.
Eilers und sein Team arbeiten mit künstlicher Intelligenz. Eine Software zur „Haltungseinschätzung“ von Passanten legt auf das Bild einer Person eine Art virtuelles Skelett (Wirbelsäule, Arme, Beine, Gelenke), um die Bewegungen zu interpretieren und um zu bestimmen, in welche Richtung sich die Menschen wenden. Zusätzlich wird die jeweilige Straßenszenerie analysiert, also die unterschiedlichen Bereiche von Häusern, Gehwegen, Fahrbahnen, Straßengrün und so weiter identifiziert. Damit und mit der Haltungseinschätzung lasse sich vorhersagen, „ob sich eine bestimmte Person dem Fahrzeug nähert oder nicht“, so Eilers.
Man muss jedoch nicht in die Welt der künstlichen Intelligenz ziehen, um Verbesserungen in der Sicherheit von Lkw und ungeschützten Verkehrsteilnehmern anzugehen. Neben dem Abbiegeverbot an problematischen Kreuzungen gehören dazu auch Innovationen wie die gläserne Lkw-Kabine zur besseren Sicht des Fahrers oder eine Lkw-Umfeldbeleuchtung, die zur Warnung an Radfahrer an den Blinker angeschlossen ist. Der Unfallforscher Ahlgrimm empfiehlt, die Verkehrserziehung stärker zu berücksichtigen. Denn gegen blindwütige Verkehrsteilnehmer könne selbst ein Abbiegeassistent wenig ausrichten.