Lebenslanges Lernen statt Eignungsprüfung für Senioren
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RobGal -
8. Februar 2017 um 11:18 -
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Einen "Mythos" nennen Professor Dr. Wolfgang Schubert vom Bonner Institut für Rechts- und Verkehrspsychologie und Dr. Michael Berg vom Berliner Institut für Testentwicklung und -anwendung (ITEA) die verbreitete Vorstellung, "dass ältere Kraftfahrer ein besonderes hohes Risiko im Straßenverkehr darstellen" und "eine erhebliche Bedrohung für die Verkehrssicherheit" seien.
Auch wenn der Eindruck oft täuscht, Senioren sind nur halb so oft an Verkehrsunfällen beteiligt wie der Durchschnitt der Bevölkerung – aber, sie verletzen sich meistens schwerer, wie die Wissenschaftler betonen.
So niedrig wie zurzeit wird ihr Anteil an den Verkehrsunfällen hierzulande wohl nicht bleiben. Für das Jahr 2030 werden Schätzungen zufolge bereits 29 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein, und für 2060 wird prognostiziert, dass jeder dritte älter als 65 Jahre alt sein wird. Heute ist es jeder fünfte. Vor diesem Hintergrund diskutieren Experten seit langem kontrovers über die Einführung einer vorgeschriebenen medizinischen Prüfung der Verkehrstüchtigkeit älterer Autofahrer, auch "Senioren-TÜV" genannt. "Eindeutig nein", sagt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) dazu, und der ADAC meint: "Ältere Kraftfahrer sind besser als ihr Ruf." Die Forderung nach Pflichtuntersuchungen, merken die Wissenschaftler Schubert und Berg an, lenkt das Augenmerk auf das "kalendarische" Alter, also auf den seit der Geburt vergangenen Zeitraum. Doch der allein sage nichts über den Gesundheitszustand oder die Leistungsfähigkeit eines Menschen aus.
Trotzdem wurden in einigen europäischen Ländern medizinische Untersuchungen für Pkw-Fahrer ab einem gewissen Alter eingeführt. So werden in Finnland Autofahrer bereits nach dem 45. Lebensjahr aufgefordert, ihre Sehleistung überprüfen zu lassen. In Griechenland, Kroatien, der Slowakei und Spanien wird eine Untersuchung ab 65 fällig. In einer Vielzahl weiterer Länder, darunter Dänemark, Großbritannien, Italien und die Schweiz, werden Autofahrer ab 70 zur Fahrtauglichkeitsuntersuchung geschickt, in den Niederlanden und in Norwegen mit 75 Jahren. In Portugal ist neben der medizinischen auch eine psychologische Untersuchung vorgesehen.
Die Wissenschaftler Schuster und Berg lehnen diese Bestimmung ab. Aus wissenschaftlicher Sicht seien Pflichtuntersuchungen für Kraftfahrer, die an das kalendarische Alter gekoppelt sind, "nicht haltbar und unverhältnismäßig", kritisieren sie. Ihre Begründung: "Eine Krankheit an sich ist nicht das Problem." Vielmehr gehe es "um den Umgang der Betroffenen mit dieser Einschränkung". Sie verweisen auf Untersuchungen in den Niederlanden und der Schweiz, in denen empfohlen wird, die Altersgrenze zu erhöhen oder die Pflichtuntersuchungen gleich ganz abzuschaffen.
Umsichtig, weitsichtig, gewissenhaft
Die Probleme, die speziell Senioren beim Autofahren haben, sind bekannt. Für sie sind Spurwechsel beim Einordnen, Kreuzungssituationen sowie Wende- und Abbiegemanöver schwierig. Auch Konstellationen, in denen eine Kontaktaufnahme mit anderen Verkehrsteilnehmern nötig wären, sind für sie nicht leicht zu bewältigen. Demgegenüber fallen Senioren kaum mit unangepasster Geschwindigkeit oder zu geringem Abstand im Straßenverkehr auf. "Ältere Kraftfahrer verhalten sich regelkonformer", betonen Schubert und Berg. Man könnte auch sagen: Sie zeichnen sich durch eine umsichtige und gewissenhafte Fahrweise aus – und können dadurch ihre Einschränkungen in der Regel beachtlich gut kompensieren. So berücksichtigen sie für ihre Fahrten Tageszeit, Wetter und Verkehrsdichte, vermeiden riskante Fahrsituationen und setzen sich nicht hinter das Steuer, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Die Strecken werden zudem sorgfältig ausgewählt, sie halten Pausen ein, vermeiden Nachtfahrten und längere Touren und bereiten ihre Fahrten meistens gut vor, wie die Forscher herausgefunden haben. In der Regel achten sie "in besonderer Weise" auf den technischen Zustand ihres Wagens und wählen beim Kauf eines Neuwagens ein Fahrzeug mit Automatikgetriebe und unterstützenden Assistenzsystemen.
Die Wissenschaftler mahnen, bei der Betrachtung gesundheitlicher Einschränkungen zu bedenken, dass der Führerscheinverlust ein "kritisches Lebensereignis" darstelle und schlagen einen psychologischen Paradigmenwechsel vor: Mit Blick auf den Gesamtzusammenhang von demographischem Wandel und älteren Autofahrern fordern Professor Wolfgang Schubert und Dr. Michael Berg, "sich von dem Modell der ‚Defizittheorie’ zu trennen und sich hin zum Modell des ‚Lebenslangen Lernens’" zu bewegen, damit älter werdende Menschen ihre Kompetenzen erhalten und zusätzlich neue erwerben können.