Mercedes-Benz Lkw: Auf dem Weg zum Schutzfahrzeug
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RobGal -
7. August 2015 um 11:56 -
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Wenn ein Schwer-Lkw mit 80 km/h ungebremst in ein Hindernis knallt, wird so viel Energie frei wie bei einem Mittelklasse-Pkw mit 400 km/h. Solche Auffahrunfälle machen das Gros der Lkw-Crashs aus, wie das Statistische Bundesamt ermittelte.
Nahezu 40 Prozent erfolgen ungebremst, zum Beispiel auf ein Stauende. Da nimmt es nicht wunder, dass die Lkw-Hersteller auf Sicherheit und Partnerschutz im Kampf gegen das schlechte Image der Kolosse auf Rädern setzen.
Die enorme Fahrzeugmasse macht es für die Ingenieure erforderlich, die Priorität auf die Verhinderung von Lkw-Unfällen zu legen. Mercedes-Benz sieht sich hier als "Pionier und Schrittmacher der Branche", wie Mercedes-Nutzfahrzeuge-Chef Wolfgang Bernhard sagt. Dass die Zahl der tödlichen Lkw-Unfälle zwischen dem Jahr 2000 und 2011 um 56 Prozent bei gleichzeitig gestiegener Transportleistung sank, erklärt Bernhard mit den vielen Sicherheitssystemen an Bord.
Die Brummis von Mercedes waren die ersten mit ABS (1986) und ESP (2001). Heute bietet der Hersteller rund 20 solcher technischen Helfer an. Man kennt sie teils aus dem Pkw, ihre Anwendung im Lkw ist aber für die Entwickler wegen der ungleich höheren Maße und Gewichte kompliziert.
Um der Gefahr von Auffahrunfällen zu begegnen, bietet Mercedes den Notbremsassistenten "Active Brake Assist 3" an. Droht der Truck auf ein stehendes oder vorausfahrendes Hindernis zu fahren, wird der Fahrer durch optische und akustische Signale gewarnt, nötigenfalls erfolgt eine automatische Notbremsung. Ab November 2015 müssen Neu-Lkw per Gesetz mit solch einem Notbremsassistenten ausgestattet sein.
Abstandhalte- und Spurhalteassistent
Auch der Abstandhalteassistent ist gegen Frontalkollisionen gerichtet. Der Fahrer kann per Knopfdruck den Sicherheitsabstand und das Tempo seines Wagens einstellen, das System passt dann beides an den Vordermann an. Die komfortable Stop-and-go-Funktion lässt den Lkw in einem Stau von selbst anfahren. Ansonsten arbeitet der Assistent wie ein Tempomat.
Ebenfalls ab November müssen Neufahrzeuge über 3,5 Tonnen einen Spurhalteassistenten auf-weisen. Immerhin ist die zweithäufigste Lkw-Unfallart das Abkommen von der Fahrbahn – in der Regel weil der Fahrer müde oder abgelenkt ist. Der Spurhalteassistent basiert auf einer Kamera in der Windschutzscheibe, die anhand der Markierung das drohende Verlassen der Fahrbahn bemerkt und Alarm schlägt. Die nächste Generation soll den Wagen durch Lenkeingriffe selbständig in der Spur halten, wie Wolfgang Bernhard ankündigt.
Beim Sattelzug überwacht das ESP auch den Auflieger, damit er etwa in einer kurvigen Auto-bahnausfahrt oder durch Unter- oder Übersteuern nicht umknickt oder umkippt. Dafür werden die einzelnen Räder gezielt abgebremst und das Tempo des gesamten Zuges reduziert.
Nach Frontalkollision und Verlassen der Spur bilden Crashs an Kreuzungen oder mit Fußgängern und Radfahrern die dritthäufigste Lkw-Unfallursache. Im unübersichtlichen Innerortsverkehr soll künftig der Abbiegeassistent unterstützen. Dabei überwacht ein an der rechten Hinterachse eingebauter Radar den Brummi auf seiner ganzen Länge und zwei Meter darüber hinaus. Er weist auf Radfahrer und Fußgänger hin und erfasst zum Beispiel auch eine Ampel, die im Weg ist, weil der Fahrer die Kurve zu eng genommen hat. Außerdem fungiert der Abbiegeassistent beim Spurwechsel nach rechts als Totwinkelwarner. Die Versicherungswirtschaft geht davon aus, dass der Abbiegeassistent die Hälfte aller Lkw-Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern vermeiden kann. Mercedes steht kurz vor der Markteinführung.
Der nächste Coup von Mercedes ist die Spiegelkamera ("Mirror Cam"). Sie ersetzt die Elefantenohrengroßen Spiegel durch Monitore. Außenkameras sollen laut Bernhard die Sicht "deutlich" verbessern und aufgrund eines geringeren Luftwiderstandes auch noch Kraftstoff einsparen. Mercedes setzt aber nicht nur auf Assistenzsysteme.
"Ganzheitlich" sei vielmehr der richtige Ansatz, erklärt Wolfgang Bernhard. Dazu gehört aus seiner Sicht zentral der Fahrer, der eine ergonomisch gute und komfortable Kabine braucht, die Arbeitsplatz, Wohn- und Schlafstätte in einem ist und auf seine Gesundheit und Fitness ausgelegt ist. Außerdem bieten die Stuttgarter spezialisierte Fahrsicherheitstrainings mit fahrphysikalischem Unterricht und Anleitungen zu den technischen Möglichkeiten der Lkw an.
Die Kombination und Weiterentwicklung der unterschiedlichen Assistenzsysteme führt nach Ansicht von Daimlers Nutzfahrzeugchef Bernhard zum selbstfahrenden Truck, der die Verkehrsregeln genauso kennt wie den Straßenverlauf und die Topographie, der Daten mit anderen Fahrzeugen und der Infrastruktur austauscht und beispielsweise eigenständig überholen kann. Vor einem Jahr fuhr ein solcher Roboter-Lkw erstmals auf einem noch nicht freigegebenen Autobahnteilstück bei Magdeburg. Im Mai erhielt in den USA ein automatischer Lkw der Daimler-Marke Freightliner die Straßenzulassung. "Greifen Assistenzsysteme heute in Gefahrensituationen ein", erläutert Bernhard, "werden die Systeme von morgen die Entstehung von Gefahrensituationen erst gar nicht zulassen."