Kunststoffe: Fenster aus Plastik, Dachrahmen aus Naturfaser und Heckflügel wie Haihaut
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RobGal -
23. Mai 2017 um 08:55 -
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Schon in den ersten Automobilen von Karl Benz am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Kunststoff in Form von Vulkanfiber, einem hornartigen Material, das gern für Koffer verwendet wurde, als Steuerdraht in Steuergeräten verbaut, ermittelte die Classic-Abteilung von Daimler auf Anfrage des Kraftfahrt-berichters. Etwas später, Anfang der 1920er Jahre, wurde bei den Motorwagen von Mercedes Bakelit, der erste vollsynthetische Kunststoff, eingesetzt, beispielsweise für Zündapparate. In den 1950er Jahren kamen Karosserieteile aus Plastik auf, dann folgte die erste Bodengruppe aus Kunststoff. 1967 präsentierten die „Farbenwerke Bayer“, wie sich der Chemiekonzern damals nannte, auf der Kunststoffmesse in Düsseldorf das erste Kunststoffauto der Welt: Der „K67“ war ein schnittiges Sportcoupé in leuchtendem Orange, der damaligen Modefarbe. Der Kraftfahrt-berichter sollte eines von nur drei Modellen auf Herz und Nieren prüfen – doch leider kam ein Unfall des Testfahrzeugs dazwischen. Heute gehört der Wagen der Bayer-Tochter Covestro und wird regelmäßig von den Mitarbeitern ausgefahren, damit der Motor intakt bleibt.
Inzwischen werden Kunststoffe, oft faserverstärkte Verbundwerkstoffe oder multifunktionale Kunststoffverbunde, gezielt zur wirtschaftlichen und umweltfreundlichen Gewichtsoptimierung anstelle von Metall eingesetzt. „Bei Fahrzeugneuentwicklungen stehen heute der Leichtbau, die design-technische Anmutung des Interieurs sowie die aktive und passive Sicherheit besonders im Vordergrund“, betonte Rudolf Stauber, Professor für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen, beim VDI-Fachkongress „Kunststoffe im Automobilbau“ Ende März in Mannheim. Selbst bei Verbrennungsmotoren mit ihren hohen Temperaturen kommt heute (temperaturbeständiger) Kunststoff zum Einsatz, um das Motorgewicht zu reduzieren.
Kunststoff bedeutet Leichtbau
So präsentierte BASF bei der VDI-Tagung eine Ladeluftstrecke aus einem neuentwickelten Kunststoff, der wärmealterungsbeständig und druckstabil bis 220 Grad Celsius ist. Ein Höhepunkt auf der Mannheimer Kunststofftagung war der erste Dachrahmen der Welt aus Naturfasern. Das Leichtbauteil, das dank eines wasserlöslichen und emissionsarmen Bindemittels formstabil, belastbar und wärmebeständig ist, wurde von BASF gemeinsam mit dem Zulieferer „International Automotive Components Group“ (IAC) entwickelt. Der große Vorteil ist die Leichtigkeit des „IAC Fiber Frame“ (Faserrahmen), der rund 40 Prozent weniger wiegt als ein Rahmen aus Metall. Diese Möglichkeit zur Gewichtsreduzierung hat Mercedes aufgegriffen. Der Stuttgarter Premiumhersteller baut das Teil erstmals in die neue E-Klasse ein. Seit dem Marktstart im April letzten Jahres können Fahrzeuge mit dem innovativen Dachrahmen bestellt werden.
Ein ganz neues Designkonzept speziell für Elektro- und selbstfahrende Autos hat Bayer-Tochter Covestro zusammen mit Lichtspezialist Hella und dem schwedischen Umeå-Institut für Design entwickelt und dafür ganz neue Polycarbonat-Werkstoffe kreiert. In die lassen sich Sensoren, die „Augen“ des autonomen Fahrzeugs, organisch integrieren. Ein entsprechendes Konzeptauto sollte vor allem leicht sein, weshalb es „als erstes Fahrzeug mit einer Rundumverscheibung aus transparentem Polycarbonat ausgestattet ist“, das leicht und zugleich aerodynamisch ist, wie Covestro hervorhebt. Diese Rundum-„Verglasung“ – sogar mit durchsichtiger A-Säule – sorgt zudem für Sicherheit, denn keine Säule versperrt mehr die Sicht auf das Geschehen vor allem im quirligen Stadtverkehr.
Hella hat für die Autostudie eigens ein Lichtkonzept entwickelt, bei dem „Licht und die Lichtwirkung selbst zum Stylingelement“ werden. Dabei wurden in eine leuchtende Fläche LED- Strahler integriert. Dieses adaptive Stilelement verleihe dem Fahrzeug „Persönlichkeit“, so Hella.
Bei Covestro zu sehen waren auch kratzfeste und blendfreie Folien für Displays und Bedienblenden, die neue Lichteffekte und Funktionen, beispielsweise „fliegende Schalter“, für die Instrumententafel erlauben. Für diese Schalter werden die verschiedenen Lagen einer Folie mit unterschiedlichen Symbolen bedruckt, wobei die unterste Schicht auf der Rückseite ein Dekor trägt. Wird der Schalter betätigt, erscheinen je nach Zweckmäßigkeit die Symbole oder das rückwärtige Dekor, abhängig davon, ob die LED-Beleuchtung von der Seite oder von unten kommt.
Kunststoff und Bionik
„Bionische Bauteilformen und Oberflächen aus Kunststoff ermöglichen neuartige Ansätze zur aerodynamischen Optimierung des Gesamtfahrzeuges“, betonte Rudolf Stauber in Mannheim, „zum Beispiel bei Unterbodenverkleidungen, Dachsystemen und Außenspiegeln“ – oder an Heckflügeln für Sportwagen. Die Haut eines Makohais, einer Haiart mit schmalem, hydrodynamischem Körper, die als besonders schneller und geschickter Schwimmer gilt, diente Frimo, einem Anbieter von Fertigungstechnologien zur Herstellung von Kunststoffkomponenten, als Vorbild bei der Entwicklung eines Fahrzeugheckflügels mit bionischer Oberfläche, die den Strömungswiderstand verringern und damit den Verbrauch reduzieren soll. Der „Street Shark 4.0“ (Straßenhai) ist die jüngste Entwicklung des Unternehmens und bezeichnet den Heckflügel einer Corvette.
Die Oberseite des Heckflügels ist glatt, während die Unterseite die Hautstruktur des Makohais aufweist. Hergestellt wird der Flügel in Leichtbauweise und in einem Arbeitsschritt von dem Unternehmen Callaway Competition (Heilbronn), das auf die Fertigung von Karosserien und auf Rennumbauten spezialisiert ist. Durch die verschiedenen Oberflächenstrukturen ergeben sich unterschiedliche Luftgeschwindigkeiten an der Ober- und Unterseite des Heckflügels, mit dem Ergebnis, dass die Struktur der Haifischhaut den Anpressdruck des Fahrzeugs auf die Straße erhöht.