OLG Stuttgart urteilt zur Mithaftung eines 12 Jahre alten Kindes bei Unfall mit Motorrad
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RobGal -
30. Mai 2017 um 15:21 -
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Am 17.4.2015, kurz nach 22.00 Uhr ereignete sich auf der Ortsdurchfahrt in L. ein Verkehrsunfall, bei dem ein 12 Jahre altes Kind verunglückte. Ein Reisebus hielt an und ließ die Kinder, unter anderem auch die 12 Jahre alte Schülerin, aus dem Bus aussteigen. Die 12-jährige Schülerin lief unachtsam hinter dem Reisebus auf die Straße, die Ortsdurchfahrt in L., und kollidierte dort mit einem Motorradfahrer. Die Schülerin verlangt hälftigen Schadensersatz, soweit nicht die Forderungen auf Sozialleistungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind. Das Landgericht Heilbronn sah den Unfall als für den beklagten Motorradfahrer unabwendbar an und wies die Klage mit Urteil vom 2.9.2016 ab. Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin hatte bei dem OLG Stuttgart teilweise Erfolg.
Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Die Klägerin hat gemäß §§ 7 I, 9 StVG Anspruch auf Schadensersatz unter Berücksichtigung eines eigenen Mithaftungsanteils von 2/3. Der beklagte Motorradfahrer und dessen Kfz-Haftpflichtversicherer haften gemäß § 7 I StVG dem Geschädigten gegenüber bezüglich des eingetretenen Schadens aus dem Betrieb des Motorrades. Diese Haftung aus der Betriebsgefahr entfällt nur dann, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Abstellen auf die höhere vom Ausschlusstatbestand des unabwendbaren Ereignisses nach § 7 II StVG a.F., das vorliegt, wenn der Unfall auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte, verabschiedet. Damit sollte gerade im Bereich der Kinderunfälle das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, dass Kindern im Falles eines unabwendbaren Ereignisses kein Ersatzanspruch zustand. Mit der Gesetzesänderung sollten die Rechte der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer gestärkt werden, was neben Kindern auch älteren Menschen und sonstigen hilfebedürftigen Personen zugutekommt. Ein auf höhere Gewalt beruhender Unfall liegt unstreitig nicht vor.
Eingeschränkt wird die Halterhaftung des unverändert gebliebenen § 9 StVG allerdings durch § 254 BGB, wenn bei der Entstehung eines Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat, wobei die Darlegungs- und Beweislast für ein Mitverschulden den Schädiger trifft. Nach § 254 I BGB hängen die Verpflichtung zum Ersatz und der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen und insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Jugendliche über 10 und unter 18 Jahren müssen sich nach §§ 828 III, 254 BGB eine Anspruchskürzung gefallen lassen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Das Mitverschulden muss der Schädiger nachweisen und gegebenenfalls beweisen, da es ein für ihn günstiger Sachverhalt ist. Auf Seiten des Kraftfahrers kann die Betriebsgefahr durch Verschulden erhöht sein. Im vorliegenden Fall könnte das zu bejahen sein, weil der Motorradfahrer besondere Sorgfaltsanforderungen gemäß § 3 II a StVO nicht beachtet hat. Danach hat sich der Kraftfahrer unter anderem gegenüber Kindern durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, dass eine Gefährdung der Kinder ausgeschlossen ist.
Unstreitig ist, dass die Klägerin die Fahrbahn unter Verstoß gegen ihre Pflichten nach § 25 III 1 StVO unachtsam überquerte. Nach § 25 III 1 StVO dürfen Fußgänger die Fahrbahn nur unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs überqueren. Die 12 Jahre alten Klägerin besaß auch die erforderliche Einsichtsfähigkeit im Sinne des § 828 III BGB. Die Beweisaufnahme hatte gezeigt, dass dem beklagten Motorradfahrer ein Verschulden nicht anzulasten war. Die Fahrgeschwindigkeit betrug 40 km/h, obwohl innerorts 50 km/h erlaubt waren. Der vom Gericht bestellte Sachverständige kam auch zu dem Ergebnis, dass der Unfall sich auch dann ereignet hätte, wenn der Motorradfahrer etwas langsamer gefahren wäre. Ein unfallursächliches Verschulden ist dem beklagten Motorradfahrer nicht anzulasten. Allerdings könnten der beklagte Motorradfahrer und dessen Krafthaftpflichtversicherer auch den Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen. Der BGH wies in seiner Entscheidung vom 18.11.2003 – VI ZR 31/02 – darauf hin, dass ein Mitverschulden von Kindern im Rahmen der Abwägung nach §§ 9 StVG, 254 BGB in der Regel geringer zu bewerten ist als das entsprechende Mitverschulden eines Erwachsenen, wobei der BGH einen Unfall mit einem 14 Jahre alten Radfahrer zu entscheiden hatte. Der erkennende Berufungssenat des OLG Stuttgart nahm eine Mithaftung der Klägerin von 2/3 an.
[color=#B22222]Fazit und Praxishinweis:[/color] Bei der vorliegenden Berufungsentscheidung handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung. Bei einem 10-jährigen Unfallopfer oder einem 17- jährigen Verletzten können durchaus auch andere Quoten in Erwägung gezogen werden. Die Rechtsprechung der Gerichte ist dazu auch unterschiedlich. Sie reicht von alleiniger Verantwortung des verletzten Kindes (so z.B. OLG Hamm Urt. v. 13.7.2009 – 13 U 179/08 – oder OLG Naumburg Beschluss v. 9.1.2013 – 10 U 22/12 -) über eine Quote von 50% (OLG Saarbrücken Urt. v. 24.4.2012 – 4 U 131/11 -), über eine Quote von 2/3 zulasten des Kindes (z.B. OLG Karlsruhe Urt. v. 10.6.2012 – 13 U 42/12 - bis zur Quotelung von /0% zu 30% zulasten des Kindes (LG Erfurt Beschluss vom 25.5.2012 – 2 S 262/11). Es kommt auch auf das Mitverschulden des Kindes und seine Einsichtsfähigkeit an.