Kein Mitverschulden einer 11-jährigen Schülerin bei Sturz nach Schreckreaktion
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RobGal -
18. Juni 2015 um 13:29 -
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Der beklagte Kfz-Führer kam ihr in seinem Fahrzeug mit geringer Geschwindigkeit entgegen. Als er auf der Höhe der Klägerin war, sprang plötzlich ein Hund auf dem Privatgrundstück neben der Straße gegen den Zaun und bellte die elfjährige Schülerin an. Diese erschrak. Sie hatte den Hund vorher nicht bemerkt gehabt. Sie machte als Schreckreaktion einen Schritt nach rechts in die Fahrbahn. Dabei stieß sie gegen den Außenspiegel des Pkws, der von dem beklagten Fahrer gesteuert wurde und der bei der ebenfalls beklagten Kfz-Haftpflichtversicherung versichert war. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte und verletzte sich, als der Pkw auf ihrem Sprunggelenk zum Stehen kam.
Die eintrittspflichtige Kfz-Haftpflichtversicherung ging von einem Mitverschulden der Schülerin aus. Die Klage vor dem Landgericht Konstanz gab der Klägerin Recht. Die Berufung führte zu einem Hinweisbeschluss des 9. Zivilsenates des OLG Karlsruhe. Der Senat beabsichtigt gem. § 522 ZPO die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Konstanz zurückzuweisen.
Der Klägerin ist ein Mitverschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls nicht anzulasten. Die Beklagten haften als Gesamtschuldner für die Folgen des Unfalls. Die Haftung der Beklagten beruht auf §§ 7 I StVG, 115 VVG. Der Schaden der Klägerin ist beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges verursacht worden. Höhe Gewalt, die die Ersatzpflicht der Beklagten ausschließen würde, lag nicht vor. Der Anspruch der Klägerin wird nicht durch ein Mitverschulden gemäß §§ 254 BGB, 9 StVG gemindert. Die Beweislast für ein Mitverschulden, welches zur Minderung des Anspruchs führen könnte, obliegt den Beklagten. Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass ein schuldhafter Verkehrsverstoß der Klägerin nicht festzustellen ist. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Klägerin für ihren Fußweg den linken Rand der Fahrbahn gewählt hat. Zur Benutzung des linken Fahrbahnrandes war sie gemäß § 25 I StVO berechtigt, da es auf der Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen gibt.
Die Klägerin hat den Unfall allerdings dadurch mit verursacht, dass sie - erschreckt durch den bellenden und gegen den Zaun springenden Hund - einen Schritt vom Rand in die Fahrbahn gemacht hat. Dieses Verhalten der Klägerin war jedoch, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, nicht fahrlässig im Sinne von § 276 II BGB. Für sogenannte Schreckreaktionen ist anerkannt, dass kein Verschulden vor-liegt, wenn jemand in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat, und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um einen Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. BGH NJW 1976, 1504; BGH, Urteil vom 4.11.2008 - VI ZR 171/07 – Rn. 10 ; Palandt/Grüneberg § 276 Rn. 17).
Eine solche Situation war für die Klägerin gegeben. Das plötzliche und für die Klägerin unerwartete Bellen und Gegen-den-Zaun-Springen des Hundes war für die Klägerin eine plötzliche, im ersten Moment nicht vollständig beherrschbare Gefahrensituation. Plötzliches Bellen und Gegen-den-Zaun-Springen in wenigen Zentimetern Entfernung werden von einem Menschen - auch von einem Erwachsenen - üblicherweise als Angriffssignal des Hundes wahrgenommen. Wenn das Ereignis - wie vorliegend - unvorbereitet eintritt, stellen sich bei einem Menschen in der Regel Automatismen ein, die jedenfalls im ersten Moment nicht mehr kontrollier-bar sind, bzw. zu einer Fehlreaktion führen können. Eine solche Reaktion war die Fluchtbewegung, bei welcher die Klägerin einen Schritt zur Seite - in die Fahrbahn - machte.
Für die Reaktion der Klägerin war dabei keineswegs eine besondere Ängstlichkeit oder Empfindlichkeit maßgeblich. Vielmehr hätten in dieser Situation - angesichts der Plötzlichkeit des Ereignisses - viele Erwachsene ähnlich reagiert. Wer in dieser Situation bei einer nachträglichen Betrachtung objektiv falsch reagiert, weil der Zaun den Hund zurückgehalten hat, handelt nicht schuldhaft. Der vorliegende Fall ist vergleichbar mit den Fällen, in denen ein Kraftfahrer bei einem plötzlichen Hindernis auf der Fahrbahn erschreckt, und mit einer objektiv fehlerhaften Ausweichbewegung reagiert. In derartigen Fällen kommt ein Schuldvorwurf sowohl im Bereich des Strafrechts als auch im Bereich des Zivilrechts grundsätzlich nicht in Betracht (OLG Naumburg NJW-RR 2003, 676). Mithin kann der Klägerin kein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls angelastet werden.
Fazit und Praxishinweis:
Grundsätzlich sind sogenannte Schreckreaktionen nicht schuldhaft begangen. Ein Schuldvorwurf kann dann nicht gemacht werden. Insoweit liegt dann bei einem Unfall, der auf die Schockreaktion zurückzuführen ist, kein Mitverschulden vor. Die Beweislast für ein Mitverschulden obliegt der Beklagtenseite. Diese muss beweisen, dass das Verhalten, das aufgrund der Schreckreaktion erfolgte, vorhersehbar gewesen wäre.