Auch bei Stop-and-go-Verkehr auf Autobahn kein Reißverschlussverfahren an AuffahrtAG Essen Urteil vom 20.3.2017 – 14 C 188/16 –
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagten kein Schadensersatzanspruch aus § 7 I StVG zu. Der Unfall vom 17.11.2014 stellt sich für keine der Parteien als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis dar. Der Umfang der Haftung richtet sich daher nach § 17 StVG danach, inwieweit der Unfall vorwiegend von der einen oder der anderen Seite verursacht wurde. Die vom Gericht vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt im Streitfall zur alleinigen Schuld der Klägerin. Die Klägerin wollte auf die Autobahn auffahren. Nach § 18 III StVO hat ein auf eine Autobahn auffahrender Verkehrsteilnehmer dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren. Der Auffahrende muss dabei den Verkehr auf der Autobahn beobachten und trägt das volle Risiko, wenn der Verkehr auf der Autobahn auf seine Vorfahrt vertraut.
Kommt es in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtsverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein der schuldhaften Vorfahrtsverletzung gegen sich (vgl. Hentschel-König 41. A. 2011, 3 8 StVO Rdnr. 68, 69). Dabei ist § 18 III StVO nicht auf das Einfädeln bei fließendem Verkehr auf der Autobahn beschränkt. Auch bei zähfließendem Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr – wie im streitgegenständlichen Fall – gilt beim Einfahren auf die Autobahn nicht das Reißverschlussverfahren. Vielmehr hat der Verkehr auf den durchgehenden Fahrbahnen Vorrang, mit der Folge, dass bei einem Unfall zwischen einem Verkehrsteilnehmer, der vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur der Autobahn einfährt, und einem Fahrzeug auf der rechten Fahrspur der Autobahn ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden des Einfädelnden spricht (OLG Köln NZV 2006, 420; LG Essen Beschl. v. 8.4.2013 – 15 S 48/13 -). Nur wenn der Einfahrende nachweisen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte die Möglichkeit hatte, unfallverhindernd abzubremsen, trifft diesen eine Mitschuld (vgl. Hentschel-König § 18 StVO Rdnr.17; KG NZV 2008, 244). Eine solche Erkennbarkeit ihres Fahrstreifenwechsels für den beklagten Lkw-Fahrer hat die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts nicht nachweisen können. Daher war die Klage abzuweisen.
Fazit und Praxishinweis: Bei Auffahrten auf die bevorrechtigte Bundesautobahn oder sonstige mehrspurige Bundesfernstraßen gilt das Reißverschlussverfahren nicht. Das gilt auch, wenn auf der Bundesautobahn oder der Bundesfernstraße zähfließender Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr herrscht. Allerdings ist das Reißverschlussverfahren ansonsten zwingend. Das Reißverschlussverfahren gilt nach § 7 IV StVO wenn auf Straßen mit mehreren Fahrspuren für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich ist oder ein Fahrstreifen endet, so ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vorBeginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können.