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60 Jahre Sicherheitsgurt: Ein Band fürs Leben
1959 von Volvo erstmals auf der IAA vorgestellt | Gestern wie heute: Lebensretter Nummer 1

RobGal

Nils Bohlin war bei der Flugzeugabteilung von Saab an der Entwicklung von Schleudersitzen beteiligt, bevor ihn Volvo 1958 als ersten Sicherheitsingenieur anheuerte. Denn der schwedische Autohersteller wollte, um in den großen US-amerikanischen Automarkt erfolgreich einzusteigen, die passive Sicherheit seiner Modelle in den Vordergrund stellen.
Kaum bei Volvo, ließ sich Bohlin von der Frage leiten, welche Stelle des menschlichen Körpers am besten geeignet sei, die bei einem Autounfall auftretenden Kräfte möglichst schadlos aufzufangen. Er kam auf die Brust und das Becken, nahm sich den Hosenträgergurt aus der Luftfahrt zum Vorbild und hatte nach einem Jahr den einfach zu bedienenden und verstellbaren Dreipunktgurt erfunden – dessen Prinzip bis heute Gültigkeit besitzt. 1959, vor genau 60 Jahren, meldete Volvo das Patent an, als „offenes“, damit auch andere Hersteller die Neuerung nutzen konnten. Man habe schon damals „gesellschaftlichen Fortschritt über finanziellen Gewinn gestellt“, erklärt das schwedische Unternehmen rückblickend. Noch im Erfindungsjahr 1959 wird der Sicherheitsgurt erstmals in der Bundesrepublik bei der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt vorgestellt: als serienmäßige Ausstattung im Volvo PV544, dem „Buckel-Volvo“, und im P120 Amazon.

Es sollte jedoch noch knapp 17 Jahre dauern, bis 1976 die Gurtpflicht für Fahrer und Beifahrer in Westdeutschland eingeführt wurde. Auf den Rücksitzen musste man sich sogar erst ab 1984 an-schnallen. Die Widerstände gegen den – bis heute! – Lebensretter Nummer 1 im Auto waren so heftig wie absurd. Bei einem Unfall werde man durch den Gurt stranguliert, wurde kolportiert, und man werde gefesselt ertrinken, falle man einmal mit dem Auto ins Wasser. Frauen wurden gewarnt, der Gurt beeinträchtige ihre Brüste. Der mediale wie reale Stammtisch war sich sicher: Der Gurt nimmt dem Autofahrer die Freiheit.

Nichts von alledem ist wahr. Im Gegenteil: Die Gesichts- und Augenverletzungen gingen nach Einführung des Sicherheitsgurtes so drastisch zurück, dass die meisten Glasaugenstudios schließen mussten. 1967 veröffentlichte Volvo eine eigene Untersuchung über 28.000 Unfälle in Schweden, aus der hervorging, dass der Sicherheitsgurt die Zahl der Verletzungen bei Verkehrsunfällen mindestens halbiert. Im Bundestag hieß es, dass jährlich 3.000 Autoinsassen in Deutschland zu Tode kämen, weil sie keinen Gurt getragen hatten.

„Das Anlegen des Sicherheitsgurtes ist noch immer die wichtigste Maßnahme, um die Verletzungsrisiken bei Unfällen möglichst geringzuhalten“, sagt heute Stefanie Ritter, Unfallforscherin bei der Sicherheitsorganisation Dekra. Diese Aussage gilt auch, obwohl es ESP und all die anderen modernen Sicherheitssysteme gibt. Mehr noch: Sie bauen alle auf dem Gurt auf. Beispiel Airbag: „Für die nicht angegurteten Insassen ist der Airbag nahezu wirkungslos“, stellt Ritter fest. Der Prallsack kann für sie sogar zur Gefahr werden, denn er ist genau auf den Gurt abgestimmt: Prallt man unangegurtet und daher im falschen Winkel sowie ungebremst auf ihn, kann das wortwörtlich ins Auge gehen. „Immerhin entfaltet sich der Airbag mit rund 200 km/h“, weiß Ritter.

Anfang der 80er Jahre kam der Gurtstraffer hinzu. Verbunden mit der Airbagsensorik, wirkt er bei einer Kollision blitzschnell der Gurtlose entgegen, damit der Gurt ohne Verzögerung seine rückhaltende Funktion erfüllt. Neue „aktive“ Gurtstraffer arbeiten mit Notbrems- oder Ausweichassistent zusammen und bringen die Person noch während der Vor-Unfall-Phase in eine möglichst optimale Position, um Verletzungen vorzubeugen.

Autozulieferer ZF kann das Gurtband im Zusammenspiel mit der Fahrzeugsensorik sogar vibrieren lassen, um den Fahrer zu warnen oder aufmerksam zu machen. Das könnte in automatisierten Autos dazu dienen, den Fahrer auf die Übernahme des Steuers vorzubereiten. ZF-Sprecher Robert Buchmeier wies im Gespräch mit dem kraftfahrt-berichter darauf hin, dass die Gurte im au-tomatisierten Fahrzeug nicht mehr an der B-Säule befestigt sein werden. Denn damit man den Sitz flexibel drehen und neigen kann, um es sich bequem zu machen oder um sich mit anderen Passagieren zu unterhalten, muss der Gurt die Bewegungen des Sitzes mitmachen, um stets in der richtigen Stellung zu sein. Daher wird der Gurt direkt am Sitz befestigt sein, so Buchmeier zum kb.

Die Anlegequote im Pkw erreicht in der Bundesrepublik nach einer Erhebung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erstmals annähernd hundert Prozent – noch nie nutzten so viele Autoinsassen den Gurt wie heute. Selbst bei der kürzesten oder langsamsten Fahrt sollte man sich anschnallen, auch auf den Rücksitzen. Wer auch nur mit 14 km/h gegen eine Mauer donnert, entwickelt Aufprallkräfte, „die dem Achtfachen des Körpergewichts entsprechen“, warnt Dekra-Fachfrau Stefanie Ritter. Sich dabei mit der bloßen Hand abstützen zu wollen ist aussichtslos. Kein Wunder also, dass das Deutsche Patentamt den Dreipunktgurt zu einer der acht Erfindungen kürte, die der Menschheit in den vergangenen hundert Jahren den größten Nutzen gebracht haben. Ein Band fürs Leben.
Quellen
    • Foto: © starman963 - Fotolia.com | Text: Beate M. Glaser/Kristian Glaser (kb)